10
Obwohl sie eigentlich keine Lust gehabt hatte, den Tag unter der Erde zu verbringen, genoss Roxy den Ausflug zur Punkva-Höhle ebenso sehr wie ich.
Da wir nicht genug Zeit für den halbstündigen Fußmarsch zum Höhleneingang hatten, nahmen wir die Gondel, die uns innerhalb von fünf Minuten am Drahaner Schloss vorbei in die Macocha-Schlucht brachte. Wir gingen eine ganze Weile auf einem gut beleuchteten Pfad durch die Höhle und bestaunten die eigentümlichen Tropfsteingebilde, dann stiegen wir in kleine Boote, mit denen wir eine dreißigminütige Fahrt über den unterirdischen Fluss Punkva tief ins Höhleninnere unternahmen.
Die Höhlen entsprachen so ziemlich dem, was ich erwartet hatte - sie waren düster und feucht -, aber es waren auch fantastische Gebilde zu bewundern, die wie riesige Säulen aus Grießbrei vom Boden aufragten.
„Stalaktiten“, sagte Roxy.
„Stalagmiten“, korrigierte der Höhlenführer. Als wir in den nächsten Höhlenbereich kamen, zeigt er auf die gefährlich spitzen Zapfen, die von der Decke herabhingen. „Hier sind wir im sogenannten Märchendom. Das da sind Stalaktiten!“
Danach gab Roxy keinen Mucks mehr von sich, was für diejenigen unter uns, die sie kennen, darauf hindeutete, dass sie irgendetwas im Schilde führte. Da ich offiziell nicht mit ihr redete, wusste ich nicht, was es war. Erst drei Stunden später, als wir wieder im Hotel waren, hob ich die Nachrichtensperre auf.
Unsere kanadischen Freunde wollten noch eine Radtour unternehmen und Roxy und ich stiegen ins Dachgeschoss hinauf, um uns Sachen anzuziehen, die nicht nach feuchter Höhle und nassem Kalkstein rochen.
„Ich hoffe, du hast deine Meditationszeit gut genutzt“, sagte ich zu ihr, als ich meine Zimmertür aufschloss. „Hoffentlich hast du an deiner Entschuldigung herumgefeilt, geschliffen und poliert, bis sie glänzt.“
„Ach, du redest wieder mit mir? Gut. Ich habe dir nämlich eine Menge zu sagen. Ich glaube, ich weiß nämlich jetzt, wie wir herausfinden können, ob Milos ein Vampir ist ...“
Sie folgte mir in mein Zimmer. Ich hob die Hand und unterbrach sie, als sie auf den Stuhl zusteuerte, auf dem Raphael und ich uns am vorigen Abend vergnügt hatten. „Einen Moment noch, mein Fräulein! Bevor du wieder versuchst, mich für einen deiner bescheuerten Pläne zu gewinnen, könntest du dich erst mal entschuldigen!“
„Vergiss es!“, entgegnete sie unwirsch und ließ sich auf den Stuhl fallen, um ihre Stiefel auszuziehen.
Sie wackelte mit den Zehen und seufzte erleichtert.
„Das ist doch kein großes Drama! Nur ein paar Runendeutungen, um Himmels willen! Christian hat gesagt, er will sich das auf keinen Fall entgehen lassen.“
„Na super, jetzt hast du auch schon Heerscharen von Zuschauern bestellt? Du hast mir geschworen, dass ich nur ein paar schnelle Deutungen machen muss, um meine Ehre - die von Tanyas Gehässigkeiten übrigens kein bisschen angekratzt werden kann, um das mal klarzustellen - und dein armseliges Bankkonto zu retten. Das ist alles, was ich machen muss - nur ein paar Deutungen, richtig?“
„Klar“, sagte Roxy, „nur ein paar Deutungen für ein, zwei Leute. So! Das war eine Bootsfahrt, was? Schade, dass du seekrank geworden bist. Ich hoffe, dass du dich in den Fluss übergeben hast, bringt nicht irgendein empfindliches Ökosystem aus dem Gleichgewicht.“
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und sah sie misstrauisch an. „Oh, nein! Du hast das Thema für meinen Geschmack viel zu schnell gewechselt. Wer sind die ein, zwei Leute, für die ich die Deutungen machen soll?“
Roxy wich meinem Blick aus. „Christian hat sich freiwillig als Versuchskaninchen angeboten.“
Ich verzog das Gesicht.
„Was? Du magst ihn doch!“
„Ja.“ Ich winkte nur ab und ließ mich in die Kissen sinken, heilfroh, dass die Übelkeit nur von kurzer Dauer gewesen war. „Weiter, wer ist der andere?“
„Es sind zwei andere, um genau zu sein.“
Ich richtete mich wieder auf. Mir kam ein übler Verdacht. „Sag bloß nicht, es sind Dominic und Milos?“
„Siehst du!“ Roxy sprang vom Stuhl auf, schnappte sich ihre Stiefel und ging zur Tür. „Du hast wirklich übersinnliche Fähigkeiten! Die Runen werden dir nicht die geringsten Probleme bereiten.“
„Natürlich“, entgegnete ich, „nicht die geringsten.“
Sie blieb abwartend an der Tür stehen.
„Ich werde keine Probleme haben, weil ich das einfach nicht machen werde“, fuhr ich fort. „Christian, okay. Arielle, gebongt. Raphael - klar doch. Aber auf keinen Fall diese beiden Schauergestalten!“
„Joyful ...“
Ich stützte meine Hände auf die Matratze und starrte Roxy böse an. „Nein!“
„Okay, wie du willst, uns wird schon etwas einfallen. Willst du jetzt hören, wie wir herausfinden können, wer der Vampir ist?“
Ich legte mich wieder hin und machte eine lässige Handbewegung. „Leg los!“
Roxy grinste. „Wir werden einen Experten zurate ziehen.“
„Einen Experten“, wiederholte ich, schloss die Augen und überlegte, ob ich noch genug Zeit für ein Nickerchen hatte. In der vergangenen Nacht hatte ich nicht viel geschlafen und da ich vermutlich lange aufbleiben würde, weil ich auf dem Markt Runen deuten musste, konnte ein kleines Schläfchen nicht schaden. „Was für einen Experten? Einen Geistlichen?“
„Nein, einen richtigen Experten. Den Einzigen auf der ganzen Welt, der mehr über Dunkle weiß als die Dunklen selbst.“
Ich dachte ein paar Sekunden über ihre Worte nach, bevor ich begriff, von wem sie redete. Ich setzte mich wieder auf. „Du meinst...“
„Jawohl, genau den meine ich. Ich rufe Dante einfach an und frage ihn, wann wir heute mal kurz bei ihm vorbeikommen können.“
Ich war zu müde, um Roxy entgeistert anzustarren, und begnügte mich mit einem missbilligenden Blick. „Roxy, er ist ein großer, berühmter Schriftsteller!
Er legt ganz gewiss keinen Wert darauf, von gestörten Fans wie dir angerufen zu werden. Ach, eigentlich brauche ich mich gar nicht aufzuregen, du kriegst ihn ja sowieso nicht an die Strippe.“
„Denkst du!“ Roxy grinste triumphierend und wedelte mit einem Zettel. „Ich habe seine Privatnummer! Zufällig war Teresa, die Kellnerin aus der Schänke, früher Dienstmädchen im Schloss. Es hat mich einen Haufen Geld gekostet, die Nummer von ihr zu bekommen, aber ich bin sicher, die Investition wird sich lohnen. Ich bestelle uns ein Taxi, das uns hier abholt ... in, sagen wir, einer Stunde. Zieh dir was Hübsches an! Den berühmten einsiedlerischen Schriftsteller C. J. Dante besucht man schließlich nicht alle Tage!“
Ich sank wieder ins Bett. Vielleicht hatte Raphael ja recht. Vielleicht waren wir alle wahnsinnig geworden und lebten in einer verrückten Welt.
Wie sich herausstellte, war es eine gute Idee gewesen, bei Dante anzurufen und sich nicht einfach so auf den Weg zum Schloss zu machen.
„Die Haushälterin hat gesagt, er ist weg, aber sie richtet ihm unser Anliegen aus“, erklärte Roxy, als ich eine Weile später aus dem dampfenden, nach Jasmin duftenden Badezimmer kam. „Sie sagte allerdings, er empfängt nicht viele Besucher, weshalb unsere Chancen auf eine Privataudienz nicht besonders gut stehen.“
„Kann ich ihm nicht verdenken. Wenn ich so viele weibliche Fans hätte, die scharf auf meine geilen Romanhelden sind, wollte ich sie auch nicht alle vor dem Schlosstor stehen haben“, sagte ich. „Dann mache ich jetzt noch ein Nickerchen. Das brauche ich dringend, weil du mich ja für heute Abend auf dem Markt verpflichtet hast. Weck mich rechtzeitig, damit wir vorher noch in die Schänke gehen können.“
„Aha!“, machte Roxy und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. „Du willst noch in die Schänke - in der Hoffnung, dass ein gewisser rattenscharfer Nicht-Vampir dort auftaucht?“
„Natürlich! Das würdest du doch auch tun, wenn du an meiner Stelle wärst!“
„Nee.“ Sie schüttelte den Kopf. „Würdest du nicht?“
„Ich müsste gar nicht auf ihn warten, denn wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich mich heute Mittag aus dem Wohnwagen geworfen und den Rest des Tages mit einem gepflegten Rodeo verbracht. Schlaf gut! Ich glaube, ich lege mich auch noch mal hin. Ich habe ein Auge auf Henri geworfen, das ist der Typ, der die Folterkammer betreibt, und ich muss ein bisschen vorschlafen, wenn ich die ganze Nacht mit ihm durchtanzen will.“
Drei Stunden später weckte ich Roxy, um ihr zu sagen, dass wir eine Nachricht von dem geheimnisvollen Herrn Dante bekommen hatten.
„Lass mich“, nuschelte sie und wollte gar nicht unter ihrer Schlafmaske hervorkommen.
„Komm schon, Roxy, du musst aufstehen! Dantes Sekretärin hat angerufen! Wir sind zu einem späten Tee eingeladen. Wenn du dich nicht beeilst, kommen wir zu spät!“
„Was? Dante? Er hat angerufen?“
Ich kramte in ihrem Schrank und holte das Kleid heraus, das Roxy auf mein Drängen hin für eventuelle Nobel-Events eingepackt hatte. „Hier, wasch dein Gesicht und zieh das an! Du willst doch gut aussehen, wenn du Dante kennenlernst, oder nicht?“
Sie hob die Maske auf einer Seite an und linste in meine Richtung. „Das ist doch wohl kein hinterhältiger Scherz, oder?“
Ich stemmte die Hände in die Hüften und funkelte sie an. „Sehe ich so aus, als wäre das ein Scherz?“
„Nein. Du hast dein gutes Kleid an.“
„Genau. Und jetzt mach! Das Taxi ist in fünfzehn Minuten da.“
Eine halbe Stunde später fuhren wir am Pförtnerhaus des Schlosses vorbei auf eine gekieste Zufahrt.
Den Weg säumten brennende Fackeln - echte Fackeln, keine elektrischen. Roxy und ich waren beeindruckt.
„Muss nett sein, wenn man Personal hat, das einem jeden Abend die Fackeln anzündet“, dachte ich laut.
Roxy grunzte zustimmend. Sie drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt und spähte hinaus in die einbrechende Dunkelheit. Ich wusste aus meinem Reiseführer, dass es vor dem Schloss gepflegte Rasenflächen und einen architektonischen Blumengarten gab, und dort sollte das große Halloween-Vampirfestival stattfinden. Die Zufahrt führte in einem Bogen an diversen Nebengebäuden vorbei zur Rückseite des Schlosses.
„Sieh nur!“, flüsterte Roxy ehrfürchtig, als wir an den Familiengräbern vorbeikamen. Fackeln beleuchteten ein kleines gruftähnliches Bauwerk zwischen den Grabsteinen. Das Licht fiel lodernd auf komplizierte Ornamente, die in den Bogen über der Tür gemeißelt waren. Darüber breiteten zwei steinerne Adler ihre Flügel aus und schrien ihren ewigen Schmerz in den Himmel. „Was mag das sein?“
„Ein Mausoleum, würde ich sagen“, entgegnete ich und stellte verärgert fest, dass auch ich flüsterte. Ich räusperte mich. „Aber guck dir erst mal das da an!“
Roxys Blick folgte meinem Zeigefinger. Vor uns ragte das gewaltige Schloss auf, dessen Umrisse sich von dem immer dunkler werdenden indigoblauen Himmel abhoben. Besonders ein spitzer Eckturm auf der einen Seite und ein imposanter Giebelturm auf der anderen waren gut zu erkennen. Das ganze Gemäuer verbreitete den Duft jahrhundertelanger Geschichte - kein Wunder, denn es war bereits vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert der Sitz der Herren von Per tejn gewesen.
Die hohen, schmalen Fenster waren mit weißen Steinen eingefasst, wie man sie in der Region überall sah.
„Fantastic!“, hauchte Roxy ergriffen, als das Taxi vor der großen dunklen Flügeltür anhielt, die von zwei brennenden Fackeln beleuchtet wurde. „Was der ganze Spaß mit den Fackeln wohl kostet?“
„Frag nicht“, entgegnete ich und legte den Kopf in den Nacken, um bis zum obersten Stockwerk zu schauen.
Roxy gab dem Fahrer eine Handvoll Kronen und wir gingen zur Tür. Bevor wir anklopfen konnten, öffnete uns eine kleine, adrette Frau mit blondem Haar.
„Miss Randall? Miss Benner?“
Wir nickten. Sie schenkte uns ein Lächeln, das ihre Augen unberührt ließ, und trat zurück, um uns einzulassen. Roxy rückte den Schultergurt ihrer Tasche zurecht, in der sich alle zwölf Book-of-Secrets-Romane befanden, und grinste mich an.
„Vergiss deine Manieren nicht“, zischte ich sie an.
Wir wurden durch ein Gewirr düsterer Gänge geführt, in denen elektrisches Licht brannte, wie ich erleichtert feststellte, denn in einem alten Bauwerk wie diesem war die Brandgefahr doch recht groß.
Über einen schwarzen Treppenaufgang erreichten wir die große Eingangshalle des Schlosses mit Gewölbebögen aus Holz, von denen alte verblichene Fahnen herabhingen. Die meisten Wände waren mit Holz verkleidet und hier und da taten sich dunkle Gänge auf, die meiner Vermutung nach in die älteren, nicht restaurierten Teile des Schlosses führten.
Als die Frau uns die Mäntel abnahm, verriet sie uns, sie heiße Gertrud und sei Dantes Haushälterin. „Er wird gleich bei Ihnen sein“, sagte sie, als sie uns in einen gemütlichen Raum bat, der ringsum mit Bücherschränken aus Mahagoni mit Glastüren ausgekleidet war.
Ich sah mich begeistert um. „Hast du jemals so viele alte Bücher auf einem Haufen gesehen?“
Roxy umklammerte ihre Tasche und drehte sich im Kreis.
„Kaum zu glauben, dass wir wirklich hier sind! Wir werden ihn tatsächlich kennenlernen! Ich bin total gespannt, wie er ist. Was meinst du, ist er alt oder jung? Glaubst du, er mag Amerikanerinnen, vor allem kleine zierliche Amerikanerinnen mit lockigem dunklem Haar und betörender Ausstrahlung?“
Ich musste lachen und beugte mich vor, um mir ein altes handgeschriebenes Buch anzusehen, das aufgeschlagen in einer beleuchteten Vitrine lag.
„Ehrlich gesagt, Rox, glaube ich, dass er ein Mann wie jeder andere ist. Sei einfach du selbst und frag ihm keine Löcher in den Bauch, dann wird er dich schon mögen.“
„Wahre Worte, gelassen ausgesprochen“, ertönte eine freundliche Stimme an der Tür. Christian kam lächelnd mit einem kleinen in Leder gebundenen Buch in der Hand auf uns zu.
„Christian?“
„Joy, du siehst ganz bezaubernd aus. Rot steht dir gut!“ Er wandte sich Roxy zu. „Und du trägst ein wirklich reizendes Kleid, obwohl du mir gesagt hast, dass du dir nichts aus Kleidern machst.“
„Bist du auch mit Dante verabredet?“, fragte Roxy verwirrt.
In diesem Moment ging mir ein Licht auf. „Dein zweiter Vorname fängt nicht zufällig mit J an, oder?“, fragte ich.
Er stellte das Buch weg, ergriff meine Hände und drückte mir auf jede einen Kuss. „Er lautet Johann.“
„Kennst du Dante etwa?“, fragte Roxy. „Das hättest du uns auch sagen können! Mein Gott, ich hätte es dir gesagt, wenn ich du wäre!“
„Rox“, sagte ich und entzog Christian behutsam meine Hände. „Darf ich dir Christian Johann Dante vorstellen, den berühmten Einsiedler und Autor der Book-of-Secrets-Romane?“
Christian verbeugte sich formvollendet vor Roxy, die ihn eine ganze Weile fassungslos anstarrte, bevor sie ihre Tasche hinwarf und ihm kreischend um den Hals fiel. Sie schlang ihre Arme und Beine um ihn, während sie unaufhörlich vor sich hin brabbelte, was sie für ein Idiot gewesen war. Christian richtete den Blick gen Himmel, als Roxy mit beiden Händen sein Gesicht hielt und ihm die Wangen küsste. Ich lachte über seinen konsternierten Gesichtsausdruck, als Roxy erneut zu kreischen begann. Er schwang sie einmal im Kreis, dann setzte er sie vorsichtig wieder ab.
„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“ Roxy hüpfte auf und ab, dann holte sie ihre Tasche, hockte sich vor Christian auf den Boden, packte ihre Bücher aus und suchte nach einem Stift, der den Fingern des großen Dante auch würdig war, wie sie vor sich hin murmelte.
Ich schenkte ihr mein schönstes gönnerhaftes Lächeln und tätschelte ihren Kopf. „So viel zum Thema Manieren.“
Roxy brauchte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte, doch mit Hilfe eines alten Brandys von Christian kam sie schließlich wieder auf den Teppich. Er entschuldigte sich immer wieder dafür, dass er uns seine wahre Identität vorenthalten hatte, bis wir ihm beide mehrmals versicherten, dass wir kein bisschen sauer waren.
„Als könnten wir auf dich sauer sein!“, sagte Roxy mit vor Verehrung leuchtenden Augen. Sie saß auf einem mit Stickereien versehenen Sofa neben Christian, den sie, ihrer Körpersprache nach zu urteilen, eindeutig zu ihrem Guru erkoren hatte.
Sein angenehmes, sanftes Lachen hallte durch den Raum. „Gestern Abend hast du noch gesagt, ich sei ein Ekel, weil ich mir deinen Namen nicht auf den Hintern tätowieren lassen wollte, und heute bin ich plötzlich ohne Fehl und Tadel!“ Er schüttelte den Kopf und grinste mich an. „Ich glaube, als Ekel gefiel ich mir besser.“
Roxy riss das Gespräch natürlich sofort an sich und es war gar nicht so leicht, sie davon abzubringen, Christian über seine alten und zukünftigen Bücher auszuquetschen, aber nach einem weiteren Brandy gab sie dem Gespräch gnädigerweise dann doch die gewünschte Richtung.
„Joy sieht mich an, als wolle sie mich grün und blau schlagen, sobald du uns den Rücken zudrehst, also kommen wir jetzt wohl besser zu dem Thema, das der eigentliche Grund für unseren Besuch ist. Wir wollten dich nämlich etwas fragen.“
„Ich bin am Boden zerstört“, entgegnete Christian pathetisch. „Ich nahm an, meine Bücher hätten euch so begeistert, dass ihr mich unbedingt persönlich kennenlernen wolltet, aber nun muss ich feststellen, dass dem nicht so ist und ich nur ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe bin. Ach Gott, was kann man tief fallen!“
„Du bist fast so ein guter Schmierenkomödiant wie Dominic“, bemerkte ich.
Seine Mundwinkel zuckten, aber er verkniff sich ein Grinsen, legte eine Hand auf seine Brust und deutete eine Verbeugung an. „Was kann ich für meine beiden Lieblingsamerikanerinnen tun?“
„Es geht um Joys Vampir“, sagte Roxy.
Christian schlug die Beine übereinander und trommelte mit seinen eleganten Fingern auf sein Knie.
„Aha, um den sagenhaften Mister St. John.“
„Nein“, entgegnete Roxy. „Wie sich gezeigt hat, ist er nicht der Vampir. Deshalb wollten wir ja mit dir reden. Wir brauchen deine Hilfe.“
„Meine Hilfe?“, fragte Christian und sah stirnrunzelnd von Roxy zu mir.
„Inwiefern?“
„Roxy hofft, du kannst uns aufgrund deiner Erfahrungen und Nachforschungen helfen herauszufinden, wer der Dunkle ist“, sagte ich. „Wir wissen, dass er in der Nähe sein muss, weil er mir Visionen aufdrängt, und ich hatte Raphael im Verdacht, aber es hat sich herausgestellt, dass ich falsch lag.“
„Tatsächlich? Ich hatte gedacht, du hättest eine Schwäche für den guten Raphael. Heißt das etwa, dass auf den verschlungenen Pfaden der Liebe irgendetwas schiefgegangen ist?“
Roxy schnaubte. „Ganz im Gegenteil. Die können doch kaum die Finger voneinander lassen.“
„Um Raphael geht es jetzt gar nicht“, sagte ich und lief schon bei der Vorstellung rot an, mit den beiden über meine gerade erst aufkeimende Beziehung zu Raphael zu sprechen. Ich errötete immer sehr schnell, was mich unglaublich nervte, aber ich fand einfach kein Mittel dagegen. „Der Punkt ist doch: Wenn er nicht der Vampir ist, wer ist es dann?“
„Wir haben eine Liste gemacht“, erklärte Roxy und wühlte in ihrer Tasche. Ich wusste sehr gut, wer alles auf der Liste stand, und versuchte noch, ihr unauffällig ein Zeichen zu geben, um sie davon abzuhalten, die Namen laut vorzulesen, aber es war bereits zu spät. „Da ist sie ja! Also: Dominic ist es nicht, du bist es nicht, Raphael wahrscheinlich nicht und Milos ist unser Favorit.“
Ich wurde noch ein bisschen röter, als Christian mich mit kritischem Blick taxierte. „Nimm mir das bitte nicht übel! Auf der Liste standen mehr oder weniger alle Männer, die mir hier begegnet sind, und dich haben wir sofort gestrichen“, beeilte ich mich zu erklären.
„Da bin ich euch aber dankbar.“
„Jedenfalls ...“ schaltete Roxy sich ein, „da du der amtierende König der Dunklen bist, haben wir gedacht, du findest mühelos heraus, wer der Mann ist, der Joy auserwählt hat.“
„Nach dem mährischen Volksglauben“, sagte Christian langsam und legte einen Finger an die Unterlippe, „hält eine Frau, die von einem Vampir zur Gefährtin auserkoren wurde, nicht mehr nach einem anderen Mann Ausschau. Aber Joy scheint mit der Vorstellung, ihr Leben mit einem Mann zu verbringen, der sie bis in alle Ewigkeit anbetet, nicht glücklich zu sein. Ich finde diesen Konflikt äußerst interessant.“
„Du fändest ihn bestimmt nicht so interessant, wenn du an meiner Stelle wärst!“, entgegnete ich. „Was du gesagt hast, verstehe ich, aber ich wüsste gern, ob an diesem Volksglauben auch etwas Wahres dran ist. Du sagst, jeder Vampir hat nur eine Seelenverwandte - eine Frau, die für ihn bestimmt ist. Ist es denn noch nie vorgekommen, dass sich die beiden nicht verstanden haben oder dass es zwei Männer für eine Frau gab oder umgekehrt?“
Christian schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Eine Frau für einen Mann, das ist die Regel.“
„Was geschieht, wenn die Auserwählte sich nicht mit dem Dunklen vereinigen will?“
Christian zuckte mit den Schultern. „Dann bleibt für den Dunklen alles beim Alten. Finsternis, Kampf, Qual und ewige Verdammnis ohne die Aussicht, jemals Erlösung zu finden - die Tortur geht einfach weiter. Der Vampir kann seinem Leid ein Ende machen, indem er sich dem Sonnenlicht aussetzt. Eine Verzweiflungstat, die gar nicht mal so selten ist.“
Roxy erschauderte. „Armer Vampir! Ich würde so etwas niemals zulassen. Joy, du solltest dich schämen!“
„Ich sage doch gar nicht, dass ich diesen Typen hängen lassen will, wer immer er ist“, erwiderte ich mit einem mordsmäßig schlechten Gewissen. Ich kam mir total gemein vor. Was war ich nur für eine Frau?
Wollte ich etwa einen Mann zu einem Leben in ewiger Finsternis verdammen, nur weil er mich nicht so sehr interessierte wie ein gewisser bernsteinäugiger Draufgänger? „Aber zuerst muss ich wissen, wer überhaupt der Dunkle ist. Dann werde ich mir schon etwas ausdenken. Vielleicht gab es ja eine kosmische Verwechslung oder so und zwei Paare wurden einfach durcheinander gebracht.“
„Das glaube ich nicht. Und du, Christian?“, warf Roxy ein.
Er sah mich nachdenklich an. „So etwas habe ich noch nie gehört.“
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde .sagte ich leise.
Er lächelte. „Wohl wahr.“
„Meinst du denn, du könntest heute Abend den Dunklen auf dem Markt ausfindig machen?“, fragte Roxy. „Joy macht doch die Runendeutungen und du wirst eins von ihren Opfern sein.“
„Danke“, sagte ich trocken.
„Das kann ich euch nicht versprechen“, antwortete Christian auf Roxys Frage.
„Ich weiß nicht viel über die Leute vom Markt.“
„Du hast Milos doch gestern kennengelernt“, bemerkte ich. „Würdest du es nicht merken, wenn er ein Dunkler wäre?“
„Vielleicht“, entgegnete Christian zögernd.
„Was denn nun? Ist er einer oder nicht? Was hältst du von Milos?“
Christian sah Roxy eine Weile an, dann schaute er in das Feuer, das im Kamin brannte. „Ich glaube, Milos ist ein Mann, der einer Frau ohne Begleiter an ihrer Seite gefährlich werden kann.
Um zu beurteilen, ob er ein Vampir ist, müsste ich ihn mir noch einmal genauer ansehen.“
„Gefährlich, hm?“ Roxy nickte und steckte sich ein Zitronenbonbon in den Mund. Sie reichte das Tütchen herum, bevor sie es wieder in den Untiefen ihrer Handtasche verschwinden ließ. „Da stimme ich dir hundertprozentig zu. Er sieht aus wie jemand, der Frauen schamlos ausnutzt.“
„Ich glaube, die Gefahr, die er ausstrahlt, geht noch darüber hinaus“, entgegnete Christian.
Ich sah auf die Uhr. „Gefährlich oder nicht, wir müssen jetzt los, da Roxy mich ja für heute Abend an den Markt verkauft hat. Danke, dass du dir Zeit für unsere Fragen genommen hast“, sagte ich und erhob mich.
Christian lächelte, doch sein Blick war wachsam und voller Sorge.
„Ich würde euch gern wieder begleiten, wenn ihr mich noch nicht leid seid.“
Roxy fiel fast in Ohnmacht vor Freude, doch ich half ihr auf die Beine, indem ich ihr versprach, sie dürfe im Auto vorn neben Christian sitzen.
Kurze Zeit später kamen wir auf dem Markt an und sahen mit Erstaunen, wie viele Menschen aus allen Richtungen , herbeiströmten.
„Du hast mich zwar regelrecht erpresst, aber ich werde die Sache durchziehen, wenn wir ein paar Grundregeln festlegen“, sagte ich zu Roxy, als wir uns vor der Kasse anstellten.
Sie sah sich um. „Mann, du hattest wirklich recht“, sagte sie zu Christian. „Hier herrscht ja Hochbetrieb! Das werden bestimmt doppelt so viele Besucher wie gestern.“
„Rox, können wir uns bitte auf die dringlichste Angelegenheit konzentrieren - nämlich mein Seelenheil?“
„Du bist ein sehr, sehr selbstsüchtiger Mensch“, entgegnete Roxy, wandte mir den Rücken zu und himmelte Christian an.
„Die Regeln sind folgende“, fuhr ich fort und ignorierte, dass sie mich nicht beachtete. „Erstens brauche ich meine eigenen Runensteine. Arielles will ich nicht benutzen, die fühlen sich nicht gut an.“
„Kaum zu glauben, dass sie letzte Woche noch die größte Skeptikerin der Welt war, nicht wahr?“, fragte Roxy Christian. „Mann, und jetzt schlägt sie mal einen ganz anderen Ton an!“
„Ja, inzwischen glaube ich schon sechs unmögliche Dinge vor dem Frühstück“, warf ich ein und bedachte sie mit einem warnenden Blick. „Ich hatte die Wahl zwischen Glauben oder Verrücktwerden und habe mich für meine geistige Gesundheit entschieden. Zweite Regel: Ich wähle diejenigen aus, für die ich die Runen deute.“
„Dominic besteht auf drei Sitzungen.“
„Gut“, sagte ich, „dann nehme ich Raphael, Christian und Arielle.“
Die Warteschlange bewegte sich ein paar Schritte vorwärts. „Aye aye, mon capitaine“, entgegnete Roxy und hörte nicht auf, Christian anzugrinsen. Er sah mich gequält an.
„Und zu guter Letzt will ich nicht, dass mir so viele Leute dabei zusehen. Das macht mich nervös und wir wissen ja, was letztes Mal passiert ist, als ich beim Runendeuten nervös geworden bin.“
„Was ist denn passiert?“, fragte Christian.
„Erdbeben, Überschwemmungen, Feuer und so weiter. Sie ist kataklysmatisch - sie kann Naturkatastrophen voraussagen.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht, zumal es so etwas auch gar nicht gibt, also kannst du ruhig aufhören, das überall herumzuerzählen! Das war alles nur Zufall, Christian. So ein paar Hexen haben mir verboten, jemals wieder bei ihnen Runenorakel durchzuführen, das ist alles. Aber es ist wahrscheinlich trotzdem keine gute Idee, dass ich es in der Öffentlichkeit tue. Ich will ja nicht, dass irgendetwas passiert.“
Wir rückten wieder einen Meter vor. Roxy sah Christian an.
„Kataklysmatisch“, formte sie lautlos mit den Lippen.
„Das Wichtigste ist jetzt, dass ich irgendwo Runensteine finde“, erklärte ich.
„Zum Glück habe ich gestern einen Stand entdeckt, wo Kristalle und solche Dinge verkauft werden.“
Wir bezahlten an der Kasse und arbeiteten uns durch die Menge zu dem Verkaufsstand vor. Nachdem ich mir. die begrenzte Auswahl an Steinen angesehen hatte, schwankte ich zwischen Rosenquarz und Amethyst. Doch als der Verkäufer mir erklärte, die Amethyste seien Steine der Freude und die Rosenquarze Steine der Liebe, wusste ich, welche ich wollte.
Als ich ihm das Geld für die Steine gab, sträubten sich plötzlich meine Nackenhaare, als wollten sie mich vor etwas warnen. Ich drehte mich um und schaute in die kalten ausdruckslosen Augen von Milos. Er nickte mir zu, begrüßte Christian mit dem gleichen eisigen Blick und ging weiter, hielt dann jedoch kurz inne. Als er hinter das Zelt blickte, machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte in die entgegengesetzte Richtung davon.
„Der Typ ist mir echt nicht geheuer“, sagte Roxy, die gerade eine Kette anprobierte.
Ich sah Christian an. Er schaute Milos hinterher und spielte geistesabwesend mit einem der Rosenquarzsteine.
„Du darfst sie nicht anfassen“, sagte ich und gab ihm einen Klaps auf die Finger.
Er schaute erstaunt auf seine Hand. „Darf ich nicht?“
„Nein. Es ist nicht gut für denjenigen, der sie deutet, wenn jemand anders sie vorher berührt. Dann haben sie die falsche Prägung oder so. Nicht dass ich jemals an diesen ganzen Zauber geglaubt habe, aber ...“ Ich lächelte matt. „Wenn ich an Vampire glaube, dann kann ich wohl auch an empfindliche Runensteine glauben.“
Er legte den Stein rasch weg und lächelte mich an.
„Komm, schönes Kind!“, rief ich Roxy zu, die sich mit einer Kristallkette um den Hals im Spiegel bewunderte. „Ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen.“
„Damit du so schnell wie möglich wieder mit Raphael rumknutschen kannst“, erwiderte sie, drehte sich zur Seite und warf erneut einen Blick in den Spiegel.
„Das ist nicht der Grund, warum ich es hinter mir haben will!“, entgegnete ich empört, ohne jedoch den Kern ihrer Aussage zu bestreiten.
„Schade“, sagte Raphael, der in diesem Moment um das Zelt herumkam. „Die Vorstellung, mit dir rumzuknutschen, gebe ich nur ungern auf, aber so enttäuscht und beleidigt ich auch bin, ich muss meinen Pflichten nachkommen, so gut ich kann. Man verlangt nach Ihnen, Madame!“
Er reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie lächelnd und genoss die Wärme, als sich seine Finger um meine schlossen. „Enttäuscht und beleidigt, wie du bist, ist dir vielleicht aufgefallen, dass ich das Rumknutschen an sich nicht abgelehnt habe.“
„Das ist mir aufgefallen“, entgegnete er und wackelte mit den Augenbrauen.
Christian trat zu uns und sah Raphael mit ausdrucksloser Miene an. „St. John“, sagte er zur Begrüßung, dann fiel sein Blick auf unsere Hände. Er kniff die Lippen zusammen, nahm meine andere Hand und legte sie auf seinen Arm.
„Dante“, sagte Raphael, nickte und musterte ihn mit kühlem Blick. Zwischen den beiden lief etwas ab, irgendein uraltes Männerding. Ich war zwar außen vor, aber ich spürte es genau. Als ich sie gerade auffordern wollte, mit diesem Imponiergehabe aufzuhören, schlenderte Roxy nach getanem Einkauf an uns vorbei und traf mit ihrem Kommentar den Nagel auf den Kopf.
„Dieses Bild erinnert mich an zwei Hunde, die sich um einen Knochen streiten“, rief sie über die Schulter. „Pass bloß auf, Joy! Als Nächstes fangen sie an, ihr Revier zu markieren, und du weißt, was das bedeutet! Dann pinkeln sie überallhin!“
Zu meiner Überraschung brachten Raphael - und Christian - mich nicht zu Arielles Handlesezelt.
Stattdessen marschierten wir die Budengasse zum Hauptzelt hinunter, in dem die ganz großen Events stattfanden. Ich nahm an, dass Dominic die Sitzungen beim Handlesen nicht wegen meiner Vorführung unterbrechen wollte.
„Seit wann weißt du schon, wer Christian ist?“, fragte ich Raphael unterwegs.
„Und warum hast du es uns nicht gesagt? Als Roxy und ich ihm von seinen eigenen Büchern vorgeschwärmt haben, hättest du verhindern können, dass wir uns komplett lächerlich machten!“
Christian warf mit seidenweicher Stimme ein, dass er mich kein bisschen lächerlich fand. Raphael zuckte nur mit den Schultern. „Gestern Abend.
Irgendjemand hat es mir in der Schänke erzählt. Ich dachte, er hätte es dir gesagt - ihr scheint recht vertraut miteinander zu sein.“
„Jetzt hör aber auf!“, erwiderte ich und wir setzten unseren Weg fort. Vor den einzelnen Ständen und Buden bildeten sich bereits lange Schlangen. Bei Arielle warteten ziemlich viele Leute, wie ich zufrieden feststellte, doch auch Tanya, die mit grimmiger Miene hohläugig in die Menge blickte, hatte mit ihren Hexenkünsten eine beträchtliche Besucherschar angelockt. „Das klingt ja, als hätte Christian in Bezug auf mich irgendwelche Absichten, dabei ist er nur höflich. Ich habe noch nie verstanden, warum ihr Kerle immer meint, euer Revier verteidigen zu müssen, wenn eine Frau eine platonische Beziehung zu einem anderen Mann hat.“
Raphael blieb ruckartig stehen, wodurch er auch mich und Christian zum Anhalten zwang. „Das meinst du ernst, oder?“
„Was?“, gab ich zurück. „Dass Männer sich gegenüber anderen Männern idiotisch aufführen? Ja, das ist mein Ernst. Ich habe schon Fälle erlebt...“
„Nein, das meinte ich nicht.“ Raphaels Blick fiel auf Christian. „Du glaubst wirklich, dass er sich nicht genauso für dich interessiert wie ich, nicht wahr?“
Ich schaute von Raphael, der meine rechte Hand festhielt, zu Christian, bei dem ich mich auf der anderen Seite eingehakt hatte. „Bring mich doch nicht so in Verlegenheit“, sagte ich leise zu Raphael. „Natürlich tut er das nicht!“
Raphael sah Christian unverwandt an. „Sag es ihr!“
Christian schürzte die Lippen und erwiderte Raphaels Blick. „Wenn die Zeit gekommen ist.“
„Sag es ihr sofort!“
„Was soll er mir sagen? Verdammt, ich hasse das Gefühl, wenn alle anderen auf der Party den Witz schon kennen, nur ich nicht!“, fuhr ich wütend auf.
„Was sollst du mir unbedingt sagen?“, fragte ich Christian. „So blöd bin ich doch nicht. Ich war schon vorher mit Männern aus und erkenne die Signale, wenn einer Interesse an einer kleinen Nummer hat, und bei dir fehlen sie. Also spuck bitte aus, was auch immer Herr Besitzergreifend meint, dass du mir sagen müsstest.“
„Also gut“, sagte Christian und legte seine Hand auf meine. „Wenn du darauf bestehst.“
Mit einer blitzschnellen Bewegung entriss er Raphael meine Hand, schlang beide Arme um meinen Körper und zog mich ganz fest an sich, um mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Ich stand einen Augenblick lang wie betäubt da. Als ich dann begriff, was er tat, versuchte ich sofort, mich aus seiner Umklammerung zu befreien.
„Lass sie los!“, knurrte Raphael hinter mir.
Christian hielt mich jedoch ganz fest. Ich nahm alle Kraft zusammen, um mich aus seinen Armen herauszuwinden. Als ich kurz vor einer Panikattacke stand, ließ er mich plötzlich los. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Seine Augen waren schwarz, tiefschwarz, als hätten sich seine Pupillen so stark erweitert, dass die Iris nicht mehr zu sehen war, und es lag etwas in ihnen, das mich erschaudern ließ.
Raphael stellte sich zwischen uns und schob mich hinter seinen Rücken.
„Wenn du sie noch mal anfasst, bekommst du es mit mir zu tun!“
„Hey!“, sagte ich und stieß Raphael an. Ein bisschen besitzergreifendes Gehabe war ja ganz nett, aber er übertrieb es ein wenig.
„Was ist denn los?“, rief Roxy, die in diesem Moment dazukam. „Die warten schon alle im Hauptzelt. Was trödelt ihr denn hier rum?“
„Hans und Franz duellieren sich noch.“
„Was du sagst, interessiert mich nicht, St. John“, erklärte Christian mit samtiger Stimme, was die Drohung, die in seinen Worten lag, noch verstärkte.
„Wenn Joy nicht von mir umworben werden möchte, wird sie es mir selbst sagen.“
„Oooh! Sie wollen sich um dich schlagen? Cool! Und ich dachte, es dauert noch, bis es zum Showdown kommt.“
„Ich sage dir, dass sie es nicht will“, erwiderte Raphael, doch was unausgesprochene Drohungen anging, war er nicht so gut wie Christian. So oder so gefiel mir die Richtung, die das Gespräch nahm, überhaupt nicht. Dass die beiden sich sogar um mich prügeln würden, war zwar eine sehr schmeichelhafte Vorstellung, doch im Grunde war ihr Verhalten extrem bescheuert. Unter den Anwesenden gab es nur einen Mann, den ich näher kennenlernen wollte.
„So, ihr zwei, jetzt ist Schluss damit!“ Ich versuchte, Raphael wegzuschieben, und quetschte mich zwischen die beiden. Da Raphael jedoch keinen Zentimeter nachgab, war ich auf Tuchfühlung mit Christian, der sich ebenfalls nicht vom Fleck rührte. Ich sah Raphael an. „Nur damit du es weißt: Weil du keinen Platz machst, pressen sich meine Brüste gegen seine Rippen!“
Raphael wich augenblicklich ein paar Schritte zurück und zog mich gleich mit sich.
„Hör mal, das ist jetzt wirklich albern“, sagte ich zu Christian. „Ich fühle mich sehr geschmeichelt, weil du mich küssen willst und so, aber die Wahrheit ist, dass wir da nicht das Gleiche empfinden. Ich nahm an, du wüsstest, dass Raphael und ich ... aneinander interessiert sind, um es mal so auszudrücken.“
„Das weiß er“, knurrte Raphael.
„Würdet ihr also alle beide mit diesem Machogehabe aufhören und euch wieder auf das konzentrieren, was jetzt ansteht? Ich bin doch kein hirnloses kleines Betthäschen, das fröhlich mit demjenigen mitgeht, der den Wettbewerb im Weitpinkeln gewinnt!“
Raphael hielt mich immer noch fest und der schmerzhafte Druck auf meine Oberarme verstärkte sich, als Christian meine Hand ergriff und sie umdrehte, um mir einen Kuss in die Handfläche zu drücken. Das hatte Dominic auch getan, doch bei Christian hatte ich nicht das Gefühl, mir die Hände waschen zu müssen. „Wie du wünschst. Dann werde ich meine Bemühungen nicht intensivieren. Noch nicht.“
„Gut. Und nachdem wir jetzt alle wieder Freunde sind, würde ich gern diese blöde Runendeuterei hinter mich bringen, damit ich den Rest des Abends genießen kann.“
Christian legte meine Hand lächelnd wieder in seine Armbeuge. Raphael murrte zwar leise vor sich hin, ergriff aber meine andere Hand.
„Und jetzt geht die kleine Hexe eine Runde zaubern“, sagte ich, als wir auf das Hauptzelt zugingen.
Keiner der Männer lachte. Roxy, die sich auf der anderen Seite bei Christian eingehakt hatte, meldete sich allerdings mit der Frage zu Wort, welches Parfüm ich benutzte - da sich seit unserer Ankunft gleich drei Kerle die Finger nach mir leckten.
„Nach mir leckt sich überhaupt niemand die Finger!“, erwiderte ich mit einem Blick, der ihr eine baldige, sehr viel ausführlichere Schelte versprach.
„Ich bin doch kein Stück Fleisch! Und damit würde ich das Thema gern beenden. Hast du Dominic gesagt, dass ich die Leute selbst aussuchen will, für die ich die Deutungen mache?“
„Nein. Ich dachte doch, ihr wärt direkt hinter mir. Dass ihr mitten auf dem Markt einen Testosteron-Wettstreit ausruft, konnte ich ja nicht ahnen!“
Ich kicherte, doch als Raphael mich wütend ansah, geriet ich in den Bann seiner Augen. Unter seinem glühenden Blick wurde mir plötzlich ganz heiß, was in einigen Körperregionen zu regelrechten Tumulten führte. Die Cheerleader erwachten wieder und begannen, das Stadion auf den Höhepunkt des Abends einzustimmen. Falls ich mir vorher vielleicht noch nicht sicher gewesen war, so ließ Raphaels feuriger, verführerischer Blick nun keinen Zweifel mehr daran, dass er mich in dieser Nacht nicht von seinem Schoß schubsen würde.
Puh, ganz schön heiß hier, dachte ich und ließ mich von ihm rasch zum Hauptzelt führen.